Weniger Unterricht, mehr Zeit zum Lernen – Gemeinschaftsschule Wutöschingen

Weniger Unterricht, mehr Zeit zum Lernen – Gemeinschaftsschule Wutöschingen (von Patricia Schmidt)
(dieser Beitrag erschien in der DSfa 2024/3)

An der Alemannenschule Wutöschingen (ASW) gibt es keinen Unterricht, keine Klassenzimmer, keine Klassenarbeiten – und auch keine Klassen. Die staatliche Gemeinschaftsschule, in der Kinder und Jugendliche von Jahrgang 1 bis 13 in niveau- und jahrgangsgemischten Gruppen lernen, denkt Schule von Grund auf neu und stellt dabei die Haltung in den Mittelpunkt.

Alle gleichaltrigen Kinder sollen bei der gleichen Lehrkraft mit den gleichen Lehrmitteln im gleichen Tempo das gleiche Ziel zur gleichen Zeit gleich gut erreichen – von einem so genannten „7-G-Unterricht“, wie ihn der Schweizer Schulgründer Peter Fratton betitelt, will man an der Alemannenschule wegkommen und umgekehrt eine „V-8-Begleitung“ erreichen: Auf vielfältigen Wegen mit vielfältigen Menschen an vielfältigen Orten zu vielfältigsten Zeiten mit vielfältigen Materialien in vielfältigen Schritten mit vielfältigen Ideen in vielfältigen Rhythmen zu gemeinsamen Zielen.

Das System Schule erschwert das Lernen

Um diese V-8-Begleitung zu erreichen und den Kindern damit individuelles Lernen überhaupt erst zu ermöglichen, muss das System Schule als Ganzes von Grund auf neu gedacht werden, denn Klassenzimmer bieten nicht den Raum zum individuellen Lernen, Deputate verhindern eine sinnvolle Einteilung der Arbeitszeit und behindern die Lernbegleitung und durch Schulbücher sowie Unterricht wird vermeintlich ein Lernen im Gleichschritt organisiert. Viel zu oft wird auch, gerade nach Schulleistungsstudien wie beispielsweise PISA, immer noch nur partiell am Unterricht herumgedoktert, wie man diesen besser machen könne. Dabei ist gerade dieser der Anfang allen Übels, da er das Lernen erschwert oder gar verhindert. Dies impliziert grundlegende Veränderungen in drei Bereichen: Raum, Zeit, Expertise.

Drei Dinge braucht das Lernen

Für verschiedene Lernanlässe gibt es verschiedene Bereiche: Für das Selbstorganisierte Lernen steht das Lernatelier zur Verfügung, in dem alle Lernpartner*innen (ehemals Schüler*innen) ihren eigenen Arbeitsplatz haben, die Lernbegleiter*innen (ehemals Lehrkräfte) ebenfalls mittendrin. Für Inputs in einzelnen Fächern gibt es Inputräume, es gibt Räume für Coachings und der sogenannte Marktplatz im Erdgeschoss des Gebäudes bietet Raum zum kooperativen Arbeiten. Doch nicht nur die Schule, ganz Wutöschingen wird zum Lerndorf: So findet beispielsweise Biologie im Club „Nutztiere und Nutzpflanzen“ direkt auf dem Bauernhof statt, Gemeinschaftskunde im Sitzungssaal des Rathauses, wo Politik und Demokratie vor Ort stattfinden, und die Bläserklassen der ASW proben im Probelokal des Musikvereines. Dem digitalen Raum kommt durch die Lernplattform DiLer („Digitale Lernumgebung“) eine besondere Bedeutung zu, denn er ermöglicht erst das Selbstorganisierte Lernen unabhängig von Raum und Zeit.

Auch die Rhythmisierung des Schultages ist eine völlig andere. Nebenfächer finden ausschließlich nachmittags in dreistündigen sogenannten Clubs statt, die trimesterweise wechseln und von den Lernenden selbst gebucht werden können. So kann jede Lernpartnerin und jeder Lernpartner seinen individuellen Plan zusammenstellen und wählen, welches Angebot er in welchem Trimester besucht und Neigungen entsprechend einzelne Fächer auch vertiefen. Am Vormittag ist Zeit für die Kernfächer. Im Lernatelier wird individuell an Materialpaketen gelernt, bei Bedarf werden Fachinputs der Kernfächer besucht. Es finden beispielsweise noch genau eine Stunde Mathematik und eine Stunde Deutsch in der Woche als Input statt – und selbst dieser ist freiwillig. Wer das Thema verstanden oder den Kompetenzbereich bereits abgeschlossen hat, braucht den Input nicht zu besuchen, sondern nutzt seine Zeit zum Lernen mit Materialpaketen, um individuell in seinem Tempo voranzukommen. Wir können den Plan der Lernenden nicht mit Unterricht vollstopfen, sondern müssen überhaupt erst die Zeit lassen, damit Lernen gelingen kann.

Diese Materialpakete sind ein Baustein der Expertise. Zu jeder Kompetenz gibt es Material auf drei Niveaustufen (Mindest-, Regel- und Expertenstandard), wobei alle Kinder im Mindeststandard beginnen. Besonders fitten Kindern ist es im Sinne der Akzeleration jedoch möglich, diesen schneller abzuschließen und im Regelstandard voranzuschreiten. Andere wiederum bekommen die Zeit, sich mit den Grundlagen auseinanderzusetzen, bis sie diese wirklich verstanden haben. Daher gibt es in diesem Sinne auch keine Klassenarbeiten sondern Gelingensnachweise, die die Kinder individuell zu einem selbstgewählten Zeitpunkt schreiben – nämlich dann, wenn sie wirklich dazu bereit sind.

Um den Lernprozess bestmöglich zu begleiten, steht jedem Lernenden außerdem eine Lernbegleiterin oder ein Lernbegleiter für ein wöchentliches 15-minütiges Einzelcoaching zur Verfügung. Im Coaching werden die Lernziele besprochen aber auch die Beziehungsebene gestärkt: Da hat die Freude über einen Sieg des Lieblingsfußballvereines ebenso seinen Platz wie die Frage nach dem Tennisturnier am Wochenende, dem Familienhund oder eben auch dem Dreisatz in Mathematik. „Wenn wir es schaffen, dass die Kinder gerne in die Schule kommen, können wir fast nicht verhindern, dass sie auch etwas lernen“, so Rektor Stefan Ruppaner.

Schmetterlingspädagogik

Zusammengefasst hat die Alemannenschule dies in ihrer Schmetterlingspädagogik. Auf der einen Seite steht das Selbstorganisierte Lernen (SoL), auf der anderen Flügelseite das Lernen durch Erleben (LdE). Das Selbstorganisierte Lernen beinhaltet viele strukturgebende Elemente wie Kompetenzraster, Materialpakete mit ausformulierten Teilzielen, individuelle Gelingensnachweise, die Nutzung des Raumes als dritten Pädagogen (vgl. Loris Malaguzzi), Graduierung sowie das im Mittelpunkt stehende wöchentliche Coaching. Der Prozess des Wissenserwerbs soll stets durch die Lernenden selbst mitgesteuert werden. Lernen auf dem Bauernhof, Musicals, die die Lernenden in phasenweisen Proben selbst auf die Beine stellen, Exkursionen, Baumhäuser bauen und mehr sind wiederum wichtiger Bestandteil des Lernens durch Erleben, sodass jede und jeder „sein Ding“ finden kann, für was er oder sie brennt.

Digitale Lernumgebung und iPads

Der digitalen Lernplattform DiLer komm als strukturgebendem Element darüber hinaus eine hohe Bedeutung zu, denn sie ist Dreh- und Angelpunkt aller schulischen Organisation und Kommunikation. Die gesamte Kommunikation der Schulverwaltung, der Lernbegleiter*innen, des pädagogischen Personals, der Lernenden sowie deren Eltern und Erziehungsberechtigten findet über Textnachrichten oder auch als Videoanruf über DiLer statt. Über die Cloud ist ein Austausch von Dateien sowie die Bereitstellung von Informationen und Formularen möglich. Das integrierte Schultagebuch dient der individuellen Dokumentation zur Förderung jedes einzelnen Kindes. Alle am Schulleben Beteiligten, so auch die Erziehungsberechtigten, sehen tagesaktuell Rückmeldungen zum Lern- und Sozialverhalten des einzelnen Lernenden sowie den Inhalten des Coachinggespräches. Über die Kompetenzraster können Materialien aller Fächer für das Selbstorganisierte Lernen heruntergeladen werden, über einen farbigen Balken wird die in der jeweiligen Niveaustufe bearbeitete Kompetenz grafisch dargestellt und gibt so Aufschluss über den Lernfortschritt. Den Lernenden ermöglicht die Lernplattform DiLer neben der transparenten Rückmeldung über den Lernstand oder das Herunterladen von Lernmaterialien auch mehr Autonomie in der Wahl von Angeboten der einzelnen Fächer. Über ein integriertes Buchungssystem können sie ihren Neigungen entsprechend beispielsweise Sportangebote selbst buchen oder sich in den Clubangeboten der Nebenfächer in bestimmten Bereichen vertiefen und ihren Interessen entsprechend spezialisieren.

Neben Stift und Papier wird das iPad als unverzichtbares Werkzeug im Prozess des Selbstorganisierten Lernens betrachtet. Folgerichtig gibt es an der Alemannenschule Wutöschingen für alle Lernenden ab Klasse drei eine 1:1-Ausstattung mit iPads. Die Kinder werden im Umgang mit dem digitalen Endgerät in ihrer Medienkompetenz geschult und dabei begleitet, das iPad nur dort einzusetzen, wo es zum Lernen hilft und einen Mehrwert bietet.

Auf die Haltung kommt es an

Es sind viele Bausteine und Zahnräder, die ineinandergreifen und das System der Alemannenschule insgesamt ausmachen. Grundlegend ist jedoch bei allem eines: Die entsprechende Haltung. Diese Haltung wird wiederum geprägt durch das Leitbild der ASW. Es gilt für alle am Schulleben Beteiligten, von den Lernpartner*innen über Sekretariat und Hausmeister, Lernbegleiter*innen bis hin zur Schulleitung, in gleichem Maße. Die Abkürzung „ASW“ steht dabei nicht nur für Alemannenschule Wutöschingen, sondern auch für Anstand, Selbstverantwortung und Willen. Auf diesem Fundament stehen die vier Säulen unseres Leitbildes:

1. Wir gehen respektvoll mit Mensch, Tier und Material um.

2. Wir tun alles dafür, dass jeder von uns selbstständig lernen kann.

3. Jeder von uns hilft mit, die Umgebung so zu gestalten, dass wir uns wohlfühlen.

4. Mit dem Herzen dabei.

Gerade die zweite Säule hat nicht nur für die Kinder, sondern insbesondere für die Lernbegleitung eine besonders hohe Relevanz. Es geht nicht, dass jeder das gleiche Arbeitsblatt erhält und es zur gleichen Zeit wie die anderen gleich gut gelöst haben muss – durch Raum, Zeit und Expertise geben wir jedem die Chance, in seinem Tempo selbstständig zu lernen. Auch ist es ein „lernen kann“, aber nicht „lernen muss“. Niemand wird zum Lernen gezwungen. Die Lernbegleitenden sind im besten Sinne Begleiter, die das Lern-Buffett bereitstellen, schön anrichten, über Inhaltsstoffe und die empfohlene Tagesdosis beraten können, was sich gut kombinieren lässt und was wie schmeckt – aber essen (= lernen) muss jedes Kind selbst.

So ist Haltung der Bereich, an dem wir immer arbeiten müssen, dass wir mit dem Herzen dabei sind, dass in all’ unserem Tun die Lernpartner*innen im Mittelpunkt stehen und wir uns nicht in irgendwelchen Paragraphen verlieren. Denn schlussendlich gilt: Wer Freude am Tun hat, wer mit dem Herzen dabei ist, hat auch Erfolg.

Der Artikel als PDF zum Lesen oder herunterladen.

Weitere Informationen:

www.asw-wutoeschingen.de

www.digitale-lernumgebung.de

www.mnweg.org