DIE SCHULE für alle – 2024/4

GGG Magazin
Das ganze Heft: DIE SCHULE FÜR ALLE 2024/4 (PDF)

Editorial

Dieter Zielinski

Für dieses Magazin hatten wir, die Redaktion, schnell Konsens über unseren Themenschwerpunkt, aber Schwierigkeiten, uns auf eine Formulierung für den Titel zu verständigen. Schließlich einigten wir uns auf Stärken entdecken und entfalten. Zur Diskussion standen auch Begriffe wie Begabung, Potenziale bzw. Talente sowie die Verben ermöglichen und entwickeln. All das sollte den inhaltlichen Schwerpunkt des Magazins zum Ausdruck bringen. Am heftigsten debattierten wir darüber, ob das Verb „begaben“ das Gemeinte ausdrückt. Vielleicht regt es Sie, liebe Leserin, lieber Leser, auch an, sich Gedanken über die Bedeutung der Begriffe zu machen.

Mit den Artikeln setzen wir uns mit einem Grundanliegen der Schulen des gemeinsamen Lernens auseinander. Nämlich damit, wie es bei aller Heterogenität, die wir als konstituierend für unsere Schulen ansehen, gelingen kann, wirklich allen Schüler:innen zu ermöglichen, ihre Stärken zu erkennen und ihre Potenziale zu entfalten. Dies erfordert u. a. eine Abkehr von einer defizitorientierten zu einer stärkenorientierten Sicht auf deren Leistungen. Besonders deutlich wird dies, wenn es um den Lernerfolg neurodivergenter Lernender geht. Siehe dazu den Artikel „Verkannte Stärken“ von Peter Ehrich.

Im ersten Artikel in der Rubrik „Im Fokus“ erinnert Christa Lohmann daran, dass Heinrich Roth bereits 1969 in dem von ihm herausgegebenen Gutachten „Begabung und Lernen“ festgestellt hat, dass Lernleistungen von zahlreichen Faktoren abhängig und nicht durch statische, auf ererbten Anlagen beruhende Begabungen festgelegt sind. Dass dies auch heute noch gilt, belegen die Analysen von John Hattie, über die Ursula Reinartz berichtet. Eva-Maria Osterhues-Bruns stellt in ihrem Gastbeitrag die Bund-Länder-Initiative „Leistung macht Schule“ (LemaS) und deren Bedeutung für die Grundschule ins Zentrum ihrer Ausführungen. LemaS nimmt die Potenzialentfaltung aller Schüler:innen in den Fokus. Damit verbunden ist auch ein Perspektivwechsel von einer herkömmlichen Begabtenförderung, die sich einzelnen Schüler:innen zuwendet, zu einer Begabungsförderung, die alle Lernenden im Blick hat. Christian Fischer führt mit seinem Artikel in die Idee einer transformativen Begabungsförderung ein, in der es vor dem Hintergrund der globalen Herausforderungen nicht allein um personenorientierte Kompetenzen, sondern auch um gemeinwohlorientiertes Handeln und Verantwortungsübernahme geht. Schließlich gibt uns Petra Schreiber am Beispiel von Schleswig-Holstein darüber Auskunft, was ein Bundesland unternimmt, um LemaS, Begabungs- und Begabtenförderung mit Fortbildungsmaßnahmen für Lehrkräfte zu unterstützen. Mit Petra Schreiber haben wir ein Interview geführt.

In unserer Rubrik „Schulen im Fokus“ berichten wir in fünf sehr unterschiedlichen Beispielen, mit welchen Schwerpunkten Begabungsförderung und auch Begabtenförderung in der Praxis umgesetzt wird. Das kann so verschieden sein, wie die Arbeit mit Lernentwicklungsportfolios, über die Lisa Kunze, Bargteheide, berichtet, oder die Förderung von Leistungssportlern an der Gesamtschule Berger Feld in Gelsenkirchen.

Natürlich informieren wir auch diesmal wieder aus unserer Verbandsarbeit. Besonders besorgt sind wir zurzeit über die nach den letzten Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg zugenommenen Möglichkeiten der AfD, in Regierungsverantwortung zu kommen. In einer Presseerklärung unseres Hauptausschusses fordern wir von allen demokratischen Parteien, die demokratische Kultur im Bildungswesen zu stärken und jegliche Regierungsbeteiligung der AfD zu verhindern. Ergänzend dazu haben wir Christa Lohmann gebeten, einen Kommentar darüber zu verfassen, inwieweit unsere Vorstellungen einer demokratischen, die Vielfalt der Schüler:innen bejahenden Schule gefährdet wären, würde die AfD Regierungsverantwortung übernehmen. Das Ergebnis: Von unseren Vorstellungen bliebe nicht viel übrig.

Liebe Leserin und lieber Leser, ich wünsche Ihnen auch im Namen der Redaktion viel Gewinn beim Lesen der Artikel in diesem Magazin.

 

Begabungen fördern durch LemaS – die Bund-Länder-Initiative Leistung macht Schule

Eva-Maria Osterhues-Bruns

Mit der Initiative Leistung macht Schule (LemaS) haben das Bundesbildungsministerium (BMBF) und die Kultusministerkonferenz (KMK) 2016 ein Programm initiiert, welches die Potenzialentfaltung von Schülerinnen und Schülern in den Fokus rückt. LemaS ist auf insgesamt zehn Jahre ausgelegt und startete im Schuljahr 2017/2018. Die Initiative gliedert sich in zwei, jeweils fünf Jahre andauernde Förderphasen. Während die erste Phase auf die Entwicklung von Strategien, Konzepten und Materialien für eine lernförderliche Schul- und Unterrichtskultur ausgerichtet war, steht in der jetzigen zweiten Phase der Transfer der entwickelten Konzepte in eine breitere schulische Praxis im Vordergrund.

Hintergrund zur Entstehung

Zahlreiche Schulleistungsstudien wie PISA, TIMMS, IGLU oder der IQB-Bildungstrend weisen seit vielen Jahren darauf hin, dass zu viele Kinder Mindeststandards nicht erreichen. Auch für den Primarbereich zeigt der letzte IQB-Bildungsbericht auf, dass der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die den Mindeststandard in den Fächern Mathematik und Deutsch nicht bewältigen im Vergleich zum letzten Bildungstrend gestiegen ist. Gleichzeitig hat auch der Anteil der leistungsstarken Schülerinnen und Schüler, die den Regelstandard erfüllen oder übertreffen, in beiden Fächern abgenommen (vgl. KMK 2022).
Um gerade auch leistungsstarken Schülerinnen und Schülern im Unterricht gerecht werden zu können, entwickelte die KMK bereits im Jahr 2015 eine Förderstrategie mit dem Ziel, „die Förderung von leistungsstarken und potenziell leistungsfähigen Schülerinnen und Schülern zu verbessern“ (KMK 2015, S. 3). Aus diesem Beschluss ist die Initiative Leistung macht Schule erwachsen.

Die zweite Phase von LemaS

Mit Beginn der zweiten Phase und dem damit verbundenen Transfer in eine breite Schulöffentlichkeit legt das BMBF verstärkt einen Fokus darauf, zukünftig Lernsettings so zu gestalten, dass „in Zukunft viel mehr Kinder die Chance erhalten, ihre Potenziale und Talente unabhängig von ihrer sozialen Herkunft zu entwickeln“ (BMBF 2020. In: Fischer / Fischer-Ontrup 2021, S. 38).

Bedeutung von LemaS für die Grundschule

Gerade der Grundschule als Schule für alle Kinder kommt somit eine zentrale Bedeutung zu. Hier gilt es, Lernarrangements zunehmend so zu gestalten, dass Kinder Lerngelegenheiten erhalten, die an ihren individuellen Lernvoraussetzungen und -interessen anknüpfen. Sie müssen die Chance erhalten, neue Themen zu entdecken – aber auch die Zeit, allein oder mit anderen, sich in diese Themen zu vertiefen und eigene, neue Lernwege erproben zu können. Portfolios oder Lerntagebücher als individuelle Lernnachweise dokumentieren Lernfortschritte und Leistungen der Kinder. Zugleich setzen solche Lernarrangements eine enge Begleitung durch die Lehrkräfte voraus, um das Erkennen, insbesondere von spezifischen Leistungspotenzialen einzelner Schülerinnen und Schüler, zu ermöglichen. In Lerngesprächen zwischen Kindern (und Eltern) und Lehrkräften können dann besondere Leistungen und Potenziale thematisiert und nächste Schritte einer Förderung ausgelotet werden. Kinder zu stärken, indem ihre Potenziale entdeckt und gefördert werden, ist eine zentrale Aufgabe der Grundschule und eine Kernforderung des Grundschulverbandes. Solche Lernsettings können daher dazu beitragen, besondere Potenziale von Schülerinnen und Schüler zu entdecken, Bildungsbenachteiligungen zu reduzieren und Chancengerechtigkeit zu erhöhen.