GGG Mitgliederversammlung 2001 (Lübeck)

Samstag, 26. Mai 2001, 9.00 – 13.00 Uhr
Geschwister-Prenski-Schule
Travemünder Allee 5a
23568 Lübeck

Lübecker Stellungnahme zur Schulleistungsforschung 2001

Einleitung

Schulpolitisch befindet sich die Bundesrepublik Deutschland im Mai 2001 in einer widersprüchlichen Situation. In nie zuvor gekannter Intensität finden Untersuchungen von Schulleistungen statt: landesintern, länderübergreifend (PISA-Erweiterung) und international (PISA). Eingreifende Maßnahmen der Schulstrukturveränderung und „Qualitätssicherung“ werden jedoch zum Teil vor der Veröffentlichung der Ergebnisse und immer ohne erkennbaren Zusammenhang mit den Resultaten der Untersuchungen beschlossen und umgesetzt.

In dieser Situation beschließt die Mitgliederversammlung der GGG nachfolgende Einschätzungen und Erwartungen zur Schulpolitik als handlungsleitende Orientierungen des Gesamtschulverbandes.

 

1. Kurze Skizze der Studien

Landesinterne Untersuchungen

Der Öffentlichkeit liegen die landesinternen Leistungserhebungen in Hamburg (LAU 5 und LAU 7) vor. Die Abschlussberichte zu den Mathematikerhebungen in Brandenburg (QuaSUM als Stichprobenuntersuchung der Jahrgänge 5 und 9) und in Rheinland-Pfalz (MARKUS als allgemeine Untersuchung des Jahrgangs 8) sind ebenfalls veröffentlicht.

Internationale PISA-Untersuchung (PISA)

Die internationale Untersuchung wird in 3Zyklen durchgeführt (2000, 2003, 2006). Gegenwärtig wird der erste Zyklus mit dem Schwerpunkt „Erhebung der Lesefähigkeit (reading literacy)“ ausgewertet. Allen 3 Zyklen liegt als inhaltliches Konzept der Begriff der literacy zu Grunde, das der deutschen curricularen Orientierung fremd ist. Untersucht werden 15-Jährige, also Schüler und Schülerinnen am Ende der Pflichtschulzeit.

Mit literacy wird die Fähigkeit bezeichnet, selbstständig und kompetent mit Hilfe der in der Schule erworbenen Instrumente Situationen des alltäglichen, beruflichen und gesellschaftlichen Lebens zu meistern. Zentral ist dabei die Anwendung von Gelerntem im realen Leben. Im Jahr 2003 geht es um mathematical literacy, im Jahr 2006 um scientific literacy.

Länderübergreifende Untersuchungen (PISA Erweiterung -E-)

Zeitlich parallel zur Durchführung der internationalen Vergleichsuntersuchung PISA (Programme for International Student Assessment) im Frühsommer 2000 lief nach Beschluss der Kultusministerkonferenz die innerdeutsche Erweiterung der Untersuchung. Sie unterscheidet sich von der internationalen Untersuchung durch die erheblich größere Stichprobe, die den Länder- und Schulformvergleich zulässt, aber nicht zwingend macht; durch eine größere Nähe zu den Lehrplänen sowie durch eine „Korrektur“ der „Verzerrungen“ der internationalen Stichprobe, die dadurch entsteht, dass durch späte Einschulung und Sitzenbleiben die 15-Jährigen in Deutschland in niedereren Jahrgangsstufen lernen als international üblich.

 

2. Bisher vorliegende Ergebnisse und Erkenntnisse

Die Untersuchungen der Mathematikleistungen in Brandenburg und in Rheinland-Pfalz weisen eindeutig die angemessene Leistungshöhe der Schüler und Schülerinnen in den Gesamtschulen nach. Sie bestätigen intern, gegenüber den Eltern und der kritischen Öffentlichkeit die gute Qualität der fachlichen Bildungsarbeit der Gesamtschulen.

Auch die Hamburger Untersuchungen erbrachten dieselben Ergebnisse. Sie waren jedoch breiter angelegt und weisen – wie schon frühere Studien – differenziert nach:

Es ist das dreigliedrige Schulsystem selbst, das Leistungsungerechtigkeit und soziale Ungerechtigkeit produziert und das sich leistungshemmend auf die Gesamtheit eines Schülerjahrgangs auswirkt. Indikatoren für diese Effekte sind

• hinsichtlich der Leistungsungerechtigkeit die breiten Überlappungen der Fähigkei ten und Leistungen der Schüler und Schülerinnen über Schulformgrenzen hinweg;

• hinsichtlich der sozialen Ungerechtigkeit die große Bedeutung des Schulabschlusses der Eltern und der häusliche Bücherbestand für die Schulformzugehörigkeit ihrer Kinder;

1(3) • hinsichtlich der Vergeudung von Leistungsfähigkeiten die ungleiche Entwicklung von Leistungen gleich befähigter Kinder in den verschiedenen Schulformen. Insbesonders mathematischnaturwissenschaftliche Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen bleiben durch ihre Schulformzugehörigkeit vor allem zur Hauptschule unentwickelt.

Die nationale Vorstudie Mathematik zur internationalen PISA-Untersuchung beweist:

Minderleistungen deutscher Schüler und Schülerinnen werden durch das bestehende System des Sitzenbleibens, des erzwungenen Schulwechsels sowie die schulformspezifischen Curricula vorprogrammiert, die nicht in allen Schulformen zu einer Grundbildung in Mathematik führen.

Das Konzept fachlicher Leistung, literacy, das Grundlage der internationalen PISA-Untersuchung ist, führt ebenfalls zu neuen Erkenntnismöglichkeiten. Aus Sicht der GGG handelt es sich dabei um ein pädagogisch interessantes Konzept, das der didaktischen und curricularen Diskussion in Deutschland innovative Impulse geben könnte, wenn eine kritische Rezeption stattfindet. Doch bisher ist keine Beschäftigung offizieller Instanzen der Schulpolitik mit diesem Konzept erkennbar.

3. Aktionen und Reaktionen der Schulpolitik

Während weder die Konzepte diskutiert noch die Ergebnisse von PISA noch von PISA-E ausgewertet und veröffentlicht sind, finden bereits in allen Bundesländern einschneidende Maßnahmen der Strukturveränderung und „Qualitätssicherung“ statt:

• die Auflösung integrierter Jahrgangsstufen 5/6

• die Einrichtung von Schnelläuferklassen zum Abitur

• die Verschärfung von Ausbildungsordnungen und Versetzungsbedingungen

• mehr zentrale Abschlussprüfungen

• schulübergreifende Korrekturen.

Wirkungen dieser Planungen bzw. Maßnahmen sind in einzelnen Bundesländern jetzt schon statistisch nachweisbar. Die Zahl der Sitzenbleiber in allen Schulformen nimmt zu; mehr Schüler und Schülerinnen müssen auf „niedrigere“ Schulformen wechseln, sind Schulscheiterer.

Qualitätssteigerung wird so nicht erreicht; bezogen auf 100 % der Kinder eines Jahrgangs aber mehr Misserfolg und ein geringeres Bildungsniveau. Der Abstand zu den deutlich höheren Schulabschlussquoten anderer Industrieländer wird noch größer!

Ausgeblieben sind dagegen in nennenswertem Umfang und auf breiter Basis

• Maßnahmen der Unterstützung innerer Schulentwicklung,

• eine Ausweitung der Fortbildung und der Unterstützung der Lehrpersonen

• die zeitliche und inhaltliche Befähigung zur Umsetzung von pädagogischen Inno vationen, kurz,

• alles das, was zu einer Pädagogik der Förderung und Erfolgsorientierung ermutigt und befähigt hätte. Modellversuche kön nen diese Leistung auf Systemebene nicht erbringen.

 

4. Erwartungen an das Wissenschaftskonsortium PISA

In dieser Situation unkoordinierten politischen Umgangs mit Untersuchungsergebnissen und Maßnahmen ist wissenschaftliche Sorgfalt besonders wichtig.

Die GGG hat wahrgenommen, dass die verantwortlichen Wissenschaftler ihrer öffentlichen Verantwortung in Hinsicht auf die Instrumentalisierung ihrer Ergebnisse stärker gerecht wurden als noch zu Beginn der Diskussion. Sie begannen, offensichtlichem Missbrauch öffentlich entgegen zu treten und berücksichtigten bei der Ergebnispräsentation von TIMSS III die früheren Erfahrungen.

Auch bei der bevorstehenden Veröffentlichung der Ergebnisse von PISA und PISA-E erwartet die GGG

• eine im wissenschaftlichen Verständnis vollständige Veröffentlichung der Studien. Dies beinhaltet eine klare Darstellung Methoden und Instrumente sowie der Begrenztheit der möglichen Erkenntnisse und Schlussfolgerungen, vergleichbar der international üblichen Praxis.

• eine Darstellung der Ergebnisse, die ein Ranking zwischen Schulformen und Bundesländern erschwert oder unmög lich macht.

• das klare und öffentliche Entgegentreten bei Missdeutungen und Missbrauch der Ergebnisse sowie den fairen Umgang mit aufgetretenen Problemen.

Darüber hinaus laden wir die Forscher und Forscherinnen – nicht nur des PISA-Konsortiums – im Namen und im Auftrag vieler Gesamtschulen aus unterschiedlichen Bundesländern ein, sich vor Ort ein Bild über die Arbeit der Gesamtschulen zu machen. Gesamtschulen sind in hohem Maße an direktem Kontakt und Austausch mit WissenschaftlerInnen und Universitäten / Hochschulen interessiert – zum beidseitigen Vorteil und Nutzen.

2(3) 5. Erwartungen an die Schulministerien der Länder

a. zum weiteren Umgang mit den Schulleistungsstudien

Im Blick auf die zurück liegenden Erfahrungen seit der Veröffentlichung von TIMSS und BIJU und im Interesse der Verwirklichung der bestmöglichen Bildungs- und Lernchancen für alle Kinder erwartet die GGG

• die Durchführung der mündlich wie schriftlich zugesagten Konferenz der KMK mit einem breiten Publikum aus VertreterInnen der Wissenschaft, der Schulen und Organisationen im Schulbereich, der Schulverwaltung und der Bildungspolitik – mit dem Ziel, eine differenzierte, sachliche Diskussion der Ergebnisse einzuleiten. So kann eine Basis für eine glaubwürdige und sachgerechte Auseinandersetzung mit den Ergebnissen entstehen.

• das Festhalten an dem Beschluss, keinerlei Ranking von Schulformen und Bundesländern durchzuführen. Dazu sind eine entsprechende Klarstellung gegenüber der Öffentlichkeit sowie ein ent sprechender Auftrag an das Wissenschaftler-Konsortium bezüglich der Ergebnisdarstellung notwendig.

Unterricht und soziales Umfeld allein können Befunde nicht ausreichend erklären. Die GGG hält es daher nicht für sachgerecht, sondern für lösungsfeindlich, wenn – wie bisher – traditionelle Mechanismen und Strukturen des Schulsystems wie Sitzenbleiben und die Mehrgliedrigkeit der Sekundarstufe I außerhalb der Betrachtung bleiben sollten. Wenig ist so eindeutig und schlüssig nachgewiesen wie die soziale Ungerechtigkeit, die Leistungsungerechtigkeit und die Leistungshemmung des gegliederten Schulwesens.

b. zur Schwerpunktsetzung einer künftigen Bildungspolitik

Kurzfristig sind folgende Maßnahmen möglich und nötig:

• die strukturellen Leistungshemmer wie Sitzenbleiben und Rückstufungen von Kindern auf „einfachere“ Schulformen abzubauen

• Gesamtschulen als integrierte Schulen jetzt auszuweiten, integratives Arbeiten im Rahmen einer neuen KMK-Vereinbarung zu erleichtern und zu stärken und zunehmend ihre allgemeine Einführung voranzutreiben. Denn sie bieten die strukturellen Voraussetzungen für das Ernstnehmen des schulischen Förderauftrags für alle Kinder an Stelle von Aussonderung. Sie bieten die Möglichkeit und schaffen die Herausforderung für didaktische Innovation und curriculare Weiterentwicklung für Alle.

• ein klares Konzept für die Lehreraus-, fort- und -weiterbildung mit dem Ziel der Förderung Aller zu entwickeln sowie erhebliche Finanzmittel für die Fortbil dung in curricularer, didaktischer und methodischer Hinsicht bereit zu stellen. Der gute Wille von Lehrern und Lehrerinnen kann nicht allein Grundlage einer allgemeinen Weiterentwicklung von didaktischer und curricularer Kompetenz sein. Orientierung an erfolgreichen Bei spielen ist möglich: das kanadische Durham Board of Education, das schottische North Lanarkshire, mehrere Kantone der Schweiz.

Da alle neueren Leistungsforschungen vorhandene Erkenntnisse bestätigt haben, ist an Stelle weiterer Forschung die Umlenkung und Konzentration der Ressourcen auf die Verbesserung der schulischen Praxis möglich und plausibel. Offensichtlich kontraproduktive Maßnahmen und Diskussionen entziehen dagegen weiteren Forschungsprojekten die Glaubwürdigkeit.

(Beschluss der Mitgliederversammlung 2001 in Lübeck)