GGG Mitgliederversammlung 1999 (Berlin)

15. Mai 1999, 9.30 – 12.00 Uhr
Fritz-Karsen-Schule Berlin
Onkel-Bräsig-Straße 76/78
12359 Berlin

Berliner Erklärung von 1999

Für eine reformorientierte Schulforschung

Wir, die Mitglieder der Gemeinnützigen Gesellschaft Gesamtschule (GGG) e.V., betrachten mit Sorge die Schlussfolgerungen, die aus der öffentlichen Diskussion um die internationale Schulvergleichsforschung für die Bildungspolitik der Länder in der Bundesrepublik gezogen werden.

• Noch bevor die wissenschaftliche Solidität und Aussagekraft der vorliegenden Untersuchungen in kritischer Debatte ermittelt werden konnten, beschlossen die Bildungsminister und -ministerinnen sowie die Schulsenatorinnen der Länder weitreichende Folgeuntersuchungen und legten millionenschwere Anschlussprogramme auf (PISA, landesinterne Untersuchungen).

• Noch bevor eine gesellschaftliche und parlamentarische Debatte über die Zielsetzungen und die daran gemessenen Leistungen des Schulsystems stattgefunden hat, wird billigend in Kauf genommen, dass die neuen Untersuchungsprogramme geltende Richtlinien und Lehrpläne stillschweigend aushöhlen werden: Jede Schule, die erfolgreich abschneiden will, wird des Testerfolg der Schüler und Schülerinnen zum obersten Lernziel ihres heimlichen oder offenen Lehrplans machen.

• Jahrzehntelange und international abgesicherte Forschungen belegen die geringe Aussagekraft von Schulleistungsvergleichen über das Können und den späteren Lebenserfolg der jungen Menschen. Diese Erkenntnisse werden ignoriert. Zunehmend angezweifelte und umstrittene „Ergebnisse“ werden dagegen benutzt, um eine allgemeine Umsteuerung der Zielsetzungen des Schulsystems zu begründen: den Wettlauf um die vorderen Plätze mit Siegern und Verlierern.

Damit werden vielfach innovative Schulentwicklungsprozesse erschwert, die gerade in Gesamtschulen erfolgreich auf dem Weg sind. Vielen Kollegen und Kolleginnen müssen jene Aspekte ihrer Arbeit als entwertet erscheinen, die sich über die kognitive Leistungsfähigkeit hinaus auf weitere wichtige Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung

richten, z.B. auf Selbstbewusstsein, Kommunikations-, Kooperations- und Konfliktfähigkeit. Diese Bereiche können durch nationale oder internationale Vergleichstests kaum gemessen und verglichen oder gar gefördert werden.

 

Eine solche Forschung

• fragt nicht die Wissensstände ab, sonder sucht, gemeinsam mit den Lehrenden und Lernenden, vor allem nach Bedingungen für gelingende Bildungsprozesse;

• identifiziert in prozessbegleitender Handlungsforschung Schritte und Maßnahmen, die für die vielen unterschiedlichen Kinder zu guten Resultaten führen;

• unterstützt die Lehrenden bei der Weiterentwicklung ihres pädagogischen und didaktischen Repertoires;

• identifiziert Faktoren, die sich nachhaltig auf den Lernerfolg der unterschiedlichen Lernenden auswirken und untersucht alternative Änderungsstrategien in der praktischen Erprobung;

• trägt zu einer Beschreibung der Erfordernisse der Lehreraus- und – fortbildung bei.

Reformorientierte Schulforschung strebt danach, Lehrende und Lernende zu stärken, damit sie die notwendigen Entwicklungen und Reformen mit Engagement in Angriff nehmen. Es ist bekannt: Lernen vollzieht sich immer dann erfolgreich, wenn Optimismus, Erfolgszuversicht und Ausdauer gefördert werden und wenn auf Aussonderung, Sanktionen und angsterzeugende pädagogische Mittel verzichtet wird.

 

Die GGG appelliert

an die Bildungsministerin, das Ziel der Chancengleichheit im Bildungssystem offensiv zu vertreten und dazu eine Schulforschung im oben beschriebenen Sinne anzuregen;

an die Bildungsbehörden der Länder, die beschlossenen Forschungsprojekte im geschilderten Sinn zu überarbeiten;

1(2) an die Bildungspolitiker und -politikerinnen in den parlamentarischen Gremien auf allen Ebenen, solche Schulforschung zu fordern und zu unterstützen, die einen Beitrag zur optimalen Bildung aller Kinder und Jugendlichen darstellt;

an die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, ihre Kritik an den beschlossenen Forschungsvorhaben öffentlich vorzutragen und unterstützende Schulforschungsprojekte zu entwickeln und zu beantragen;

an ihre Mitglieder und die Aktiven in den Gesamtschulen, die Forschungsvorhaben in den Schulen selbstbewusst und kritisch zu begleiten, gegen denunzierenden Umgang mit Ergebnissen öffentlich zur Wehr zu setzen und sich für die Forderungen dieser Erklärung für eine reformorientierte Schulforschung, die diesen Namen verdient, bei allen Gelegenheiten einzusetzen.

Die durchgeführten und die beschlossenen Forschungen (TIMSS, BIJU, PISA, Ländervergleiche) werden zur Legitimation gesellschaftlicher Entwicklungen der Entsolidarisierung benutzt und verstärken diese:

Im Wettlauf um das beste Abschneiden werden die gewinnen, die mit den besten Startchancen ins Rennen gehen.

Diejenigen werden verlieren, die mit den persönlich und sozial schlechteren Ausgangsbedingungen antreten.

Die soziale Selektion in der Schule wird weiter verstärkt. Konkurrenz wird zum Programm erhoben. Schulen, die sich um Kinder mit Lernschwierigkeiten kümmern, werden durch schlechte Tabellenplätze beim Schulranking „bestraft“. Solidarisches Lernen findet allenfalls als Erzeugung einer „prosozialen Motivation“ der Erfolgreichen unter Ihresgleichen Berücksichtigung (vgl. BIJU). In ihrer Lebenswirklichkeit trennen sie sich früh und konsequent von den Benachteiligten in Schule und Gesellschaft.

Die GGG appelliert deshalb an alle Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, diese Art der Forschung kritisch auch innerhalb der Institute und Hochschulen zu diskutieren. Forschungsprojekte sind abzulehnen, die die oben befürchteten Auswirkungen auf die Schulen erwarten lassen.

Gleichwohl ist Schulforschung nötiger denn je. Denn die Schule muss sich verbessern.

Wir wünschen uns eine andere Schulforschung. Eine Schulforschung, deren Ziel, Interesse und methodische Anlage darauf gerichtet sind, zur optimalen, solidarischen Bildung, Persönlichkeitsentwicklung und Förderung aller Schüler und Schülerinnen beizutragen. Diese Forschungsprojekte sollten in den Schulen, nicht ohne oder gar gegen sie entwickelt werden.