Barbara Riekmann
Die Vision lebt!
In der bildungspolitischen Situation der ausgehenden 60er Jahre trafen unterschiedliche Interessen aufeinander: Es ging um ökonomische Aspekte, um die Ausschöpfung der Bildungsreserven, es ging aber auch um eine neu verfasste Schule und um Erziehung zu (mehr) Demokratie.
In den Empfehlungen der Bildungskommission 1969 zur “Einrichtung von Schulversuchen mit Gesamtschulen“ werden gleich zu Beginn fünf Motive benannt, die an ihrer Aktualität bis heute nichts eingebüßt haben: Eine wissenschaftliche Schule für alle, statt einer „volkstümlichen Bildung“ für einige – die Individualisierung des Lernens statt einer Einordnung der Schüler/innen in starre Bildungsgänge – die bessere Förderung durch fachspezifische Differenzierung – größere Chancengleichheit durch das Offenhalten der Bildungsgänge – soziale Erfahrungen im Sinne eines sozialen Lernens in einer heterogenen Gemeinschaft. Gleichzeitig lieferten die Empfehlungen der Bildungskommission aber auch die Einwände der Gegner mit. Die Gegenargumente wurden in den Versuchsauftrag mit hineingenommen. Daran ist erkennbar, dass die „Empfehlungen“ nicht das Ergebnis eines bildungspolitischen Konsens sind. Diese Ambivalenz und der bildungspolitische Dissens prägte die Auseinandersetzungen der kommenden Jahre.
Die GGG wurde 1969 als Interessenvertretung für die Gesamtschule gegründet. Sie wurde öffentliche Stimme für eine Schule für alle. Das war in der bildungspolitischen Situation notwendiger denn je. Denn immer wieder musste in den kommenden Jahren und Jahrzehnten darauf insistiert werden, dass die Gesamtschule als Alternative zum dreigliedrigen Schulsystem konzipiert ist und dass sie eine nicht verhandelbare Vision hat. Dies galt für die Weiterentwicklung und innere Reform der Gesamtschule in gleicher Weise wie für die Abwehr der Versuche der Gesamtschulgegner, die Gesamtschule zur vierten Schulform zu degradieren.
Vieles wurde auf Verbandsebene akzentuiert und abgewehrt, gleichviel Herzblut steckte in den Initiativen und Gesamtschulgründungen vor Ort. Über Jahrzehnte hinweg ist Aufbauarbeit geleistet worden, wurden didaktische, organisatorische und pädagogische Modelle und Alternativen erarbeitet. Schulgründungen, Schulumgründungen, Schulfusionen begleiteten diese Prozesse innerer Reform. Bedeutsame Impulse kamen von den Versuchsschulen, die noch heute namhafte Vertreter einer alternativen pädagogischen Schulkultur sind (Köln-Holweide, Kassel-Waldau, Göttingen-Geismar, Laborschule usw…). Aber auch viele ganz „normale“ Gesamtschulen behaupteten sich in ihrer Region als Alternative zum dreigliedrigen Schulsystem.
Schon frühzeitig gab es im Verband eine Debatte um die äußere Leistungsdifferenzierung, diese ist bis heute nicht aufgelöst. Für viele Gesamtschulen war es in den 80er Jahren schwer zu verdauen, dass mit der KMK Vereinbarung über die Anerkennung der Abschlüsse mit dem „Grundmodell“ und den Vorgaben zur äußeren Leistungsdifferenzierung Aspekte der Dreigliedrigkeit in das System hineinkamen. Trotz dieser Einschränkung war und ist die Gesamtschule ein gelungener und erfolgreicher Gegenentwurf zum dreigliedrigen Schulwesen. Sie hat über Jahrzehnte hinweg ihre Solidität bewiesen und ihre Attraktivität für Eltern bis heute, das zeigen auch jüngste Entwicklungen in den Bundesländern, erhalten.
Im Zuge der Wende gründeten sich Schulen (Jenaplan, Montessori…), die sich nicht als Gesamtschulen, wohl aber als Reformschulen verstanden. Bemerkenswert ist, dass viele Gesamtschulen von Reformschulen und vice versa lernten, ein Prozess, der ab ca. 2000 an Intensität zunahm. Und wenn es auch pädagogische „Überlappungszonen“ gab, vermischten sich doch originäre Aspekte der Gesamtschule (Chancengerechtigkeit und Potentialermöglichung) mit den Aspekten der Reformschulpädagogik (vom Kinde ausgehend, Selbsttätigkeit), ein produktiver und fruchtbarer Prozess, der auch in der Öffentlichkeit seinen Niederschlag fand. Hiervon zeugen die vielen Schulpreisschulen und die vielen in der GGG organisierten Schulen. Die Blaue Reihe der GGG zeigt auf, welche inhaltlichen Aspekte sich hier miteinander verweben. Die äußere und innere Vielfalt der Schulen, die sich dem gemeinsamen Lernen verschrieben haben, ist alleine schon damit größer geworden.
Parallel hierzu fand in einem rasanten Tempo eine Veränderung der Bildungslandschaft statt. In mehreren Bundesländern ist dies auf ein zweigliedriges Schulsystem hinausgelaufen, andere Länder finden sich in Übergängen („Zweigliedrigkeit plus“/ K. J. Tillmann), wiederum andere in Drei- oder Viergliedrigkeit. Die Tempi und Verlaufsformen sind so unterschiedlich, dass sie sich Generalisierungen noch verschließen. Auch die Ursachen sind vielfältig, sie hängen hier mit dem Wegfall der Hauptschule zusammen, reichen dort über demografische Entwicklungen und sind zugleich Anpassungen an das geänderte Eltern-Wahlverhalten. In jedem Fall schaffen die Veränderungen hin zu einem zweigliedrigen Schulsystem neue Konstellationen und zwingen die Gesamtschulen zu einer Neupositionierung. Ein Zwei-Säulenmodell war nie das Ziel der GGG, aber wenn es denn da ist, darf die Vision einer Schule für alle nicht aufgegeben werden.
In dieser so bewegten bildungspolitischen Entwicklung geht es darum, alle Schulen gemeinsamen Lernens zusammenzuhalten und zu stärken. Die Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg in gleicher Weise wie die Gemeinschaftsschule in Berlin, die Oberschule in Bremen, die Stadteilschule in Hamburg, die Gesamtschule in Hessen, die Gesamtschule und die Sekundarschule in Nordrhein-Westfalen usw. Für diesen Zusammenhalt und für diese Identität ist die Namensänderung ein starkes Zeichen nach außen.
Was für die GGG Schulen des gemeinsamen Lernens sind, ist in den Grundsatzbeschlüssen von 2008 (Herford), 2010 (Berlin) und 2011 (Hildesheim) inhaltlich dargelegt. Sie sind aus meiner Sicht die Grundlage für die Verständigung darüber, was Schulen gemeinsamen Lernens konstitutiv ausmacht und sie so auch stark stellt in der jeweiligen bildungspolitischen Situation. Sie sind damit auch die Konkretion der Vision einer Schule für alle.