U. Reinartz: John Hattie und der Begabungsbegriff (DSfa 2024/4)

Zwischen vererbter Intelligenz und erworbenen Fähigkeiten: Lernen bei John Hattie heißt Ausbau des individuellen, noch nicht verwirklichten Potenzials.

John Hattie und der Begabungsbegriff

Ursula Reinartz

Welche Relevanz hat Begabung für erfolgreiches Lernen bei John Hattie? Und in welchem Verhältnis stehen Begabung und Lernen zueinander?

Potenzial statt Begabung

John Hattie legt in „Visible Learning 2.0“ (1) den Begriff „Potenzial“ zu Grunde.

„Die Grundaussage dieses Buches ist, dass jedes Kind von Geburt an ein Lernender ist. Alle sind unterrichtbar, alle können sich entwickeln und allen kann beigebracht werden das Lernen wertzuschätzen“ (Hattie, S. 95). So ist es das Ziel eines jeden, das ihm zugeschriebene oder auch selbst angedachte Potenzial zu erreichen, oder besser noch, zu erkennen, dass er oder sie darüber hinaus gehen kann (Hattie, S. 96f).

Intelligenz und Lernleistung

Laut einer Untersuchung von Hattie und Hansford aus dem Jahr 1982 besteht eine Korrelation von 0,51 zwischen Intelligenzmessung und Lernleistung. „Das ist ein hoher Wert, aber es gibt viele weitere Möglichkeiten, die Lernleistung von allen Schülerinnen und Schülern zu verbessern – unabhängig von ihrer Intelligenz“ (Hattie, S. 63).

Inwiefern ist Intelligenz oder angelegte Begabung nach John Hattie 2024 ausschlaggebend für den Lernerfolg? Prüft man die von ihm untersuchten Faktoren daraufhin, so wird man am ehesten mit den Begriffen „vorausgehende Fähigkeiten & Intelligenz“ und „vorausgehendes Leistungsniveau“ fündig (2) Beide Faktoren haben danach jeweils eine große Bedeutung mit einer hohen Effektstärke und Sicherheit im Ergebnis. Beide Begriffe beinhalten allerdings sowohl beim Lernenden angelegte als auch durch vorheriges Lernen erworbene Fähigkeiten (Hattie, S. 62f.) und sind dahingehend nicht trennscharf abgrenzbar.

John Hattie setzt aber seinen Fokus auf das Lernenkönnen, indem er sagt: „… wenn wir die aktuellen Leistungen als auch das intellektuelle Potenzial kennen, [sind wir] besser in der Lage …, das noch nicht verwirklichte Potenzial zu verstehen“ (Hattie, S.63).

Bedeutsam ist, dass aus den über 200 Untersuchungskriterien seiner Auswertung von Metastudien vor allem die Aspekte eine besondere Wirksamkeit haben, die mit einer positiven Erwartung des Lernenkönnens verbunden sind, sei es vonseiten der Eltern, der Lehrenden oder der Lernenden selbst.

Einstellungen und Haltung des Lernenden selbst spielen beim Erwerb von Fähigkeiten eine überaus große Rolle: die „Beurteilung der eigenen Leistungsfähigkeit“, „positive Selbstwirksamkeitserwartungen“ und ein „positives Selbstkonzept“. Hinzu kommen „Feldunabhängigkeit“, nämlich die Fähigkeit vom Ganzen her und analytisch zu denken, „kritisches Denken“ und „exekutive Funktionen“ (3), die die Steuerungen von Denkprozessen beinhalten.

Außerdem ist eine positive Gefühlslage gegenüber dem Lernen wichtig: Emotionen, wie „Freude“, „Neugierde“ und auch schlichtweg „Glücklichsein“ beim Lernen. (4) Dazu gehört auch „emotionale Intelligenz“, die sich laut John Hattie auf „Fähigkeiten, emotionsbezogene Informationen zu regulieren, zu steuern und zu zeigen, sowie auf die Selbstkontrolle und Selbstmotivation“ (5) beziehen (Hattie, S. 78–81). (6)

Äußere unterstützende Einflüsse sind Elternhaus, Schule, Schulbehörden, Curricula, Technologien u. v. m. Dabei kommt es darauf an, „den Lernenden zu helfen, ihr Potenzial auszuschöpfen, … mit ihnen zusammenzuarbeiten, um das zu übertreffen, was sie für ihr Potenzial halten“ (Hattie, S. 96).

Der wichtigste Faktor für erfolgreiches Lernen überhaupt

Der wichtigste Faktor für Lernen überhaupt liegt aber in der „Kollektiven Wirksamkeitserwartung“ durch die Lehrerinnen und Lehrer und in der „Einschätzung des Leistungsniveaus durch die Lehrperson“ (7). Es liegt in der gemeinsamen Verantwortung der Lehrenden, die Lernenden zum eigenständigen Lernen zu ermächtigen und eine entsprechend positive Zuschreibung und Erwartungshaltung für den Erfolg zu legen.

Festzuhalten bleibt: Für John Hattie gibt es keine festgeschriebene Begabung, sondern ein umfassendes „Potenzial“, das für den Lernenden ausbaufähig ist – ausgehend von seinem aktuellen Leistungsniveau und auf die zukünftigen Lernmöglichkeiten bezogen.

 

Quellenangaben zu
Ursula Reinartz
John Hattie und der Begabungsbegiff
in Die Schule für alle 2024/4
(1) John Hattie, Visible Learning 2.0, Deutschsprachige Ausgabe von „Visible Learning:
The Sequel“ besorgt von Stephan Wernke und Klaus Zierer, Baltmannsweiler 2024.
(2) Vorausgehende Fähigkeiten & Intelligenz: (0,96/5), vorausgehendes Leistungsniveau:
(73/5), siehe Hattie S.62f.
Folgende Schreibweise wird im Weiteren für den Hinweis auf die Wirksamkeit für das
Lernen verwendet: (Effektstärke/Robustheitsindex). Dabei bezeichnet die Effektstärke
den Grad der Wirkung für den Lernerfolg. Eine Effektstärke von 0,5 bedeutet eine
mittelhohe Wirkung, eine Effektstärke von 1,0 eine sehr hohe Wirkung. Der
Robustheitsindex bezeichnet die statistische Sicherheit des Ergebnisses zwischen 1
(gering) und 5 (hoch).
(3) „Beurteilung der eigenen Leistungsfähigkeit“ (0,96/3), Hattie, S. 68. „Positive
Selbstwirksamkeitserwartungen“ (0,64/5), Hattie S. 75. Ein positives Selbstkonzept“
(0,51/5), Hattie S. 75. „Feldunabhängigkeit“ (0,94/2) Hattie S. 6. „Kritisches Denken“
(0,84/3,) Hattie S. 69. „Exekutive Funktionen“ (0,63/4), Hattie, S. 64.
(4) Emotionen (0,61/2), „emotionale Intelligenz“ (0,5/5),
https://www.visiblelearningmetax.com/Influences (09.09.2024), siehe auch Hattie,
S. 78–81.
(5) Hattie, S. 79.
(6) https://www.visiblelearningmetax.com/Influences (09.09.2024).
(7) „Kollektive Wirksamkeitserwartung“ durch die Lehrerinnen und Lehrer (1,34/2),
„Einschätzung des Leistungsniveaus durch die Lehrperson“ (1,29/4), Hattie S. 185 und
S. 182. Siehe auch: https://www.visiblelearningmetax.com/Influences (09.09.2024).