Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule – Verband für Schulen des gemeinsamen Lernens e.V.

Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule – Verband für Schulen des gemeinsamen Lernens e.V.

Landesverband Saarland

SL: Das Zwei-Säulen-Modell im Saarland

SaarlandAnfang und Ende der Gesamtschule – und ein Ausblick

(von Klaus Winkel und Günther Clemens)

Es gibt keine Gesamtschulen im Saarland mehr. Die Gemeinschaftsschule, in der sie aufgegangen ist, wird zweite Säule neben dem Gymnasium. Die Entwicklungen von 1971 bis heute werden nachgezeichnet. Die aktuellste Strukturänderung im bewegten saarländischen Schulsystem: Das neunjährige Gymnasium wird revitalisiert.

 

Verhaltener Anfang der Gesamtschulentwicklung

Wie in anderen Bundesländern wurde nach dem Krieg das Schulsystem restauriert, d. h. Grundund Volksschule, Realschule und Gymnasium (auch Real-Gymnasien etc.) sowie Hilfs- bzw. Förderschulen entstanden wieder oder wurden fortgeführt. Daran änderte die Eingliederung des Saarlandes in die Bundesrepublik 1956 nichts.

Die sog. Bildungskatastrophe (G. Picht 1964) und die Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates (1970) wirkten im Saarland recht bescheiden.

1971 wurde im Rahmen des Experimentalprogramms der Bundesregierung der Modellversuch IGS Dillingen gestartet und von der Universität des Saarlandes (Prof. Dr. Ludwig Kötter) wissenschaftlich begleitet. Durchgeführt wurde eine Leistungsvergleichsstudie zwischen den Schüler*innen der Integrierten Gesamtschule und ausgewählten Vergleichskohorten aus Realschule und Gymnasium. Der Studie ist nicht zu entnehmen, wie viele Schüler*innen in den ersten Jahrgängen aufgenommen wurden. Es fehlen Hinweise darauf, wie die Lehrerschaft gewonnen und ob diese auf ihre Aufgaben, in einem integrierten System mit Fachleistungsdifferenzierung zu arbeiten, vorbereitet wurde.

Das Ergebnis ist ernüchternd: „In den drei Fächern Deutsch, Mathematik und 1. Fremdsprache leisten die Gymnasiasten am meisten, die Gesamtschüler am wenigsten. … Die Leistungsunterschiede sind in Deutsch am geringsten, in der 1. Fremdsprache am stärksten ausgeprägt.

… Die niedrigen Leistungen der Gesamtschüler der Klassenstufe 10 lassen sich im Wesentlichen auf die Tatsache zurückführen, dass die Gesamtschüler bereits beim Start in die Sekundarstufe I einen im Durchschnitt ausgeprägt niedrigeren Leistungsstatus als Realschüler bzw. Gymnasiasten hatten. Dieser relative Leistungsstatus bleibt bis zum Ende der Sekundarstufe I im Wesentlichen erhalten.“ (Befund der wissenschaftlichen Begleitung 1980) Die Hoffnung auf Hebung der Begabungsreserven („Das katholische Arbeitermädchen vom Lande“ war die Kunstfigur der Bildungsbenachteiligung) und Ausgleich der Bildungschancen erfüllten sich nicht.

Diese Befunde wurden damals von der GGG (Landesverband Saarland) als „umstritten“ qualifiziert.

Die CDU Landesregierung hat den Versuch ‚Integrierte Gesamtschulen‘ als abgeschlossen angesehen. Lediglich in der SPD-regierten Landeshauptstadt Saarbrücken wurde eine zweite IGS errichtet.

 

Pädagogischer Aufbruch

Ende Schuljahr 1991/92, also ein Jahrzehnt später und nach einer pädagogischen Reform, haben in der Gesamtschule Dillingen von 116 Schüler*innen 100 (86 %) den Mittleren Bildungsabschluss (MBA) zuerkannt bekommen. 45 (39 %) erhielten die Berechtigung zum Eintritt in die Klassenstufe 11. Schulentwicklung bedarf der Zeit und der Unterstützung. Beides hat die Gesamtschule Dillingen erhalten und genutzt.

1985 gewann die SPD die Landtagswahlen und Prof. Dr. Diether Breitenbach übernahm das Ministerium für Kultus, Bildung und Wissenschaft. Er setzte sich bereits als Hochschullehrer für die Gesamtschule ein und organisierte für Interessierte Studienfahrten an die IGS Köln-Holweide, deren Team-Konzept ihn überzeugte.

Die zweite umfassendere Gründungsphase von Gesamtschulen begann im Herbst 1985. Zwei Personalien signalisierten den pädagogischen Aufbruch: Udo Affeldt, Didaktikleiter IGS Köln-Holweide, und Dr. Klaus Winkel, wissenschaftlicher Begleiter der IGS Göttingen-Geismar, übernahmen Aufgaben im Ministerium bzw. in der Lehrerfortbildung.

Es wurden zunächst fünf weitere Gesamtschulen eingerichtet und die beiden bestehenden umstrukturiert.

Die Neugründungen wurden als Team-Kleingruppen-Schulen (TKM-Schulen) konzipiert und ihre künftigen Lehrer*innen vor Beginn ihrer Tätigkeit in einem Grundkurs TKM, den sie als Jahrgangsteams besuchten, vorbereitet.

Dafür wurde am Staatlichen Institut für Lehrerfortbildung, später umbenannt in Landesinstitut für Pädagogik und Medien (LPM), zunächst eine dreiköpfige, später deutlich erweiterte Projektgruppe mit eigenem Budget etabliert: Entwicklungsbegleitende Lehrerfortbildung für den Gesamtschulbereich.

 

Die Teams nahmen zum Schuljahresbeginn 1986/87 ihre Arbeit auf.

Alle künftigen Lehrer*innenjahrgänge absolvierten als Teams den vorbereitenden einwöchigen TKM-Grundkurs. Speziell ausgebildete Teamtrainer*innen unterstützten sie während des ersten Jahres im 5. Jahrgang. Zudem konnten die Gesamtschulen bis zu vier Tage für schulinterne Fortbildung nutzen.

Ergänzt wurde diese Fortbildung durch halbjährlich stattfindende zwei- bis dreitägige Schulleitungstreffen. Jugend- und Elternseminare fanden ebenfalls im Halbjahresrhythmus statt. Diese wurden gemeinsam mit den Landesverbänden der GGG und der GEW durchgeführt und von der ‚Stiftung Demokratie Saarland‘ unterstützt. Für die Jugendseminare konnten Mittel des Sozialministeriums in Anspruch genommen werden.

Jahr für Jahr wurden weitere Gesamtschulen gegründet, bis in jedem Landkreis zwei und im Stadtverband Saarbrücken fünf Schulen für interessierte Eltern und Jugendliche zur Verfügung standen.

Die Gesamtschule Neunkirchen-Haspelstr. wurde als erste gebundene Ganztagsschule im Sek IBereich im Saarland eingerichtet.

Alle Gesamtschulen führten eine eigene Oberstufe oder kooperierten mit einem Gymnasium oder einer Gesamtschule mit eigener Oberstufe. Damit war das Abiturprivileg des Gymnasiums im Saarland aufgehoben.

Die Entwicklung der saarländischen Gesamtschulen mit ihrem Team-Kleingruppen-Modell und der spezifischen Fortbildung strahlte weit über das kleine Land hinaus. Besonders zu erwähnen sind Kurse für Lehrer*innen aus den USA und Australien sowie Besuche und Fortbildungen in diesen Ländern. In Australien tragen einige Schulen den Namen „Saarland-School“. Gesamtschulen in Rheinland-Pfalz und dem Saarland hospitierten wechselseitig und werteten ihre Befunde produktiv aus. Exkursionen nach Göttingen und später nach Beatenberg (Schweiz) befruchteten die Entwicklungen.

 

Stagnation und Ende

Anfang der 90er Jahre wurden viele Fortbildner*innen wieder mit voller Stelle in ihren Schulen eingesetzt. Auch die Projektgruppe wurde verkleinert und als Abteilung in das Landesinstitut eingegliedert ohne eigene Mittel und mit deutlich erweitertem Aufgabenbereich.

Die Unterstützung der Gesamtschulentwicklung seitens des Ministeriums ging bereits vor der Übernahme des Bildungsministeriums durch die CDU merklich zurück. Die Gesamtschulen blieben sehr attraktiv und erfolgreich. Allerdings kamen nur noch zwei dazu, jedoch ohne Vorbereitung der Lehrer*innen und ohne Begleitung.

Die GGG Saarland reagierte mit der selbstständigen Fortbildungseinrichtung FELS (Fortbildung Eltern, Lehrer, Schüler). FELS verfügte über nur geringe Ressourcen, und Freistellungen von Lehrer*innen zur Fortbildung tendierten gegen Null. Bis heute stabil blieben lediglich die Jugendangebote. Im Herbst 2023 wird das nächste Seminar stattfinden.

Die Schulpolitik der Landesregierungen verfolgte und realisierte das Ziel Zwei-Säulen-Modell. Der erste Schritt war die Einrichtung der Erweiterten Realschule. Die Realschule wurde um die Hauptschule und die Sekundarschule, nicht jedoch um das Gymnasium Mitte der 90er Jahre erweitert. Der Versuch, auch die Gesamtschule zur Erweiterten Realschule zu reduzieren, scheiterte am Widerstand (Schulstreik) ihrer Eltern und Schüler*innen.

Die Gesamtschule behauptete sich erfolgreich neben der Erweiterten Realschule und dem Gymnasium. Doch nicht lange!

Zum Schuljahr 2012/13 wurde die Gemeinschaftsschule eingeführt, d. h. die Erweiterte Realschule und die Gesamtschule wurden in dieser Schulform aufgehoben.

Zugleich erhielten Gymnasium und Gemeinschaftsschule Verfassungsrang. (Art. 27 Saarländische Verfassung) Für die Verfassungsänderung stimmten GRÜNE, CDU, FDP (Jamaika-Koalition) und DIE LINKE. Die SPD lehnte es ab, Schulformen Verfassungsrang einzuräumen.

 

Gegenwart und Blick in die Zukunft

Zwar hat die Gemeinschaftsschule viele Merkmale der Gesamtschule, nicht jedoch das Team-Kleingruppen-Modell übernommen. Sie bietet alle Abschlüsse häufig im Verbund mit anderen Gemeinschaftsschulen, Berufsschulen oder Gymnasien; doch der Anspruch, eines Tages „EINE Schule Für Alle“ zu sein, ist politisch nicht gewollt.

Aufgegeben wurde eine für diese Schulform qualifizierende Lehreraus- und vor allem -fortbildung.

Die öffentlichen Schulen (allgemeinbildende Schulen; berufliche Schulen) sind inklusive Schulen. Da die Gymnasien diesem Gebot wenig bis keine Achtung schenken, werden allein den Gemeinschaftsschulen vergleichsweise sehr anspruchsvolle Aufgaben überantwortet: Drei Bildungsgänge sollen zu den drei Basisabschlüssen (Hauptschulabschluss, Mittlerer Bildungsabschluss, Abitur) führen; hinzu kommt die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit erheblichen Lern- und Lebensproblemen. Pandemie und Zuzug von Kindern und Jugendlichen, die aus von Hunger und Krieg gebeutelten Ländern ins Saarland kommen, stellen die Gemeinschaftsschulen derzeit vor kaum bewältigbare Herausforderungen.

Neben den allgemeinbildenden Schulen bietet das Saarland Förderschulen, über deren Besuch grundsätzlich die Eltern entscheiden. Im Schuljahr 2021/22 wurden 3.543 Schüler*innen unterrichtet.

Die Bildungspolitik der aktuell von der SPD geführten Landesregierung wird diesen Widerspruch nicht auflösen wollen. Sie konzentriert sich vor allem auf die Wiedereinführung des 9-jährigen Gymnasiums im Schuljahr 2022/23. In dieser Phase des steigenden Lehrermangels kommt diese Reform zur Unzeit. Die dafür benötigten Lehrer*innen mit Sekundarstufe II-Fakultas fehlen in den Gemeinschaftsschulen, die ihre gymnasiale Oberstufe noch auf- und ausbauen wollen und müssen. Nur wenige der 60 Gemeinschaftsschulen haben eine, und die anderen sind für viele Eltern kein besonders attraktives Angebot.

Dabei sollte nach ihrer Einführung 2012 die Gemeinschaftsschule zur zweiten „gleichwertigen“ Säule werden. Die Schulen entwickeln sich sehr unterschiedlich, sodass von einer dem Gymnasium gleichwertigen Säule nicht gesprochen werden kann. Dieser Befund gilt auch mit Blick auf die Ganztagsangebote. Nur einige sind gebundene Ganztagsschulen. Daneben werden Freiwillige Ganztagsschulen angeboten in Zusammenarbeit mit diversen Trägern der Jugendhilfe. An allen Schulen arbeiten – zumindest stundenweise – Schulsozialarbeiter*innen. Mit ihnen sind professionelle Teams zu bilden, die Kinder und Jugendliche bei der Lösung ihrer Lebens- und Lernprobleme helfen sollen.

Gleichwohl werden alle Gemeinschaftsschulen aufgrund der knappen Ressourcen und der einseitigen Problembelastung an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit gelangen, so sie dort nicht schon sind.

Aus Sicht der GGG Saarland ist ein schlüssiges pädagogisches Konzept zu entwickeln, das, flankiert von entsprechender Aus- und Fortbildung der Lehrer*innen, phasenweise auch im Tandem mit Schulsozialarbeiter*innen die Gewähr bietet, dass kein Kind respektive kein/e Jugendliche/r zurückgelassen wird. Die Team-Kleingruppen-Gesamtschulen waren auf einem guten, weil erfolgreichen Weg. Die Möglichkeit dazu besteht für die Gemeinschaftsschulen auch. Das Schulgesetz ermöglicht Reform und Entwicklung, ja, das Gesetz fordert Schulen und die dazugehörigen Gremien geradezu auf:

§ 3a „Über Beginn und Umfang der äußeren Fachleistungsdifferenzierung ab der Klassenstufe 7 entscheidet die Schulkonferenz auf Vorschlag der Gesamtkonferenz im Rahmen ihres pädagogischen Konzepts und der personellen und sächlichen Gegebenheiten auf der Grundlage der geltenden schulrechtlichen Regelungen.“ „Bis einschließlich Klassenstufe 8 rücken die Schülerinnen und Schüler der Gemeinschaftsschule in der Regel ohne Versetzungsentscheidung auf.“

§ 5,1 „Zur Gewinnung und Erprobung neuer pädagogischer und schulorganisatorischer Erkenntnisse sollen nach Anhörung der Landesschulkonferenz Versuchsschulen, nach Anhörung der Schulkonferenz Schulversuche eingerichtet werden.“

§ 5,3 „Zur Erprobung von Modellen der Selbstständigkeit und Eigenverantwortung kann die Schulaufsichtsbehörde einer begrenzten Anzahl von Schulen für die Dauer von bis zu sechs Jahren in Abweichung von den bestehenden Rechtsvorschriften ermöglichen, zur Weiterentwicklung des Schulwesens bei der Personalentwicklung, Personalverwaltung, Stellenbewirtschaftung und Sachmittelbewirtschaftung sowie in der Unterrichtsorganisation und Unterrichtsgestaltung selbstständige Entscheidungen zu treffen.“

 

Nachsatz:

Die Phase der erfolgreichen Gesamtschulentwicklung ab 1985 lehrt uns, dass die Gemeinschaftsschulen nur dann dauerhaft erfolgreich sein können für wirklich alle Schüler*innen ein guter Ort erwachsen zu werden, wenn die Lehreraus- und -fortbildung entsprechend reformiert wird, wenn in Verbindung mit pädagogisch begründeter partizipativer (Eltern, Lehrer*innen, Schüler*innen) Schulentwicklung praktiziert wird und auch politischer Wille reaktiv wird und die notwendigen personellen und sächlichen Ressourcen zur Verfügung stehen.

 

Wie sieht es mit dem politischen Willen in der Praxis aus?

Sicher wurde die Einführung der Gemeinschaftsschule nicht mit dem gleichen Engagement geplant und umgesetzt wie die Einführung der Gesamtschule, doch erfährt die Schulform durchaus Unterstützung durch die aktuelle Landesregierung – gerne dürfte es etwas mehr sein, auch in Zeiten knapper Lehrerressourcen.

Neben der Rückführung von G9, die durchaus als Scheitern eines saarländischen Versuchs zum achtjährigen Gymnasiums verstanden werden kann, ist für die Schulen das Thema „Digitalisierung“ eine große Aufgabe. Hier zeigt sich exemplarisch, wie Wunsch und Wirklichkeit der Bildungspolitik auseinandergehen. Zwar besitzen alle Schüler*innen ein digitales Endgerät, doch nur wenige Schulen verfügen über ein flächendeckendes WLAN, Lehrer*innen wurden auf digitale Arbeit nicht vorbereitet.

Ein Pflichtfach „Informatik“ wird zu diesem Schuljahr ab Klassenstufe 7 eingeführt, die Lehrer* innen werden in deutlich zu geringer Zahl eiligst qualifiziert und der Lehrplan wurde erst gegen Ende des abgelaufenden Schuljahres vorgelegt. Die Funktionsstellenstruktur wurde der an Gymnasien geltenden angenähert, doch die Besetzung der Stellen klemmt. Zudem bekommen die Schulen keineswegs hinreichend Systemzeit zur Verfügung gestellt. So wird es schwer, den genannten und zu erwartenden Gestaltungsspielraum auszufüllen.

Dies führt dazu, dass die Akzeptanz der einzelnen Maßnahmen gering ist, Lehrer*innen unzufrieden sind und sich überfordert oder allein gelassen fühlen.

Hier gilt es nachzusteuern, damit die „Gemeinschaftsschule“ ein Erfolgsmodell wird. Mit ihrem integrativen Ansatz kann sie es in jedem Fall sein.

Die GGG Saarland wird sich weiterhin in diesem Sinne engagieren. Eine die Verfassung ändernde parlamentarische Mehrheit zugunsten der „Einen Schule für alle Kinder“ scheint derzeit jedoch auf lange Sicht nicht erreichbar.